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Aus der Erfoschungsgeschichte der Erdbachhöhle
der größten und tiefsten Höhle Hessens von Helmut Steiner
Solange Menschen in unserem Raum siedeln, muss der eigenartige Lauf des Erdbachs ihre Gedanken beschäftigt haben. Wo sonst kann man einen kräftigen Bach erleben, der nach kurzem Lauf am Tageslicht plötzlich wieder in den Tiefen der Erde verschwindet? Nach unterirdischem Lauf von etwa 1300 Metern in der Luftlinie taucht er als stärkste Quelle weit und breit wieder auf. Dabei überwindet er auf dieser Strecke einen Höhenunterschied von rund 110 Metern. Man müsste schon weit reisen, um Ähnliches zu erleben. Erst am Meißner oder im Odenwald finden sich vergleichbare Erscheinungen, allerdings in viel geringerem Ausmaß. Auch in der Größenordnung Entsprechendes kann man erst in der Schwäbischen Alb oder in Belgien erleben. Für die früheren Bewohner unserer Heimat lag all das so gut wie völlig außerhalb ihres Horizontes. Für sie musste der Erdbach etwas Einmaliges sein. Solche Besonderheiten fallen auf. Sie fesseln den Blick jedes wachen Beobachters viel stärker als Allerweltsdinge. Nachdenkliche Naturen fragen nach dem Warum? Sie suchen das Unerkannte zu deuten. Zumal das Unterirdische hat seinen besonderen Reiz. Aberglaube und Phantasie beleben es mit den verschiedensten Wesen, vermuten Schätze, Verstecke, ja ganze unterirdische Reiche. So hat sich zunächst die Sage des Erdbachs bemächtigt:
Der (Erdbach) Floss damals, wie alle anderen Bäche im Westerwald es tun, auf dem Erdboden dahin, bewässerte die Wiese der Breitscheider und befruchtete ihre Äcker zur heißen Sommerzeit. Aber die Breitscheider waren den Unterirdischen nicht gut und zeigten sich recht oft undankbar. Da nahmen diese ihnen den Bach. Als sie eines Morgens aufstanden und ihre Wiesen wässern wollten, da war das Wasser plötzlich in der Tiefe verschwunden. Die Zwerge hatten es geholt und dadurch den Breitscheidern großen Schaden zugefügt. Damit war aber den Erdbachern auch der Bach genommen, obwohl sie sich mit den Zwergen gut standen. Sie kamen daher und baten, ihnen doch den Bach wiederzugeben. Die Zwerge willigten ein, und als die Erdbacher anderen Tages aufstanden, rauschte der Bach durchs Tal wie zuvor. Am Fuße des Berges kam der so plötzlich Verschwundene wieder zum Vorschein …“ (0. Runkel: Westerwaldsagen)
Diese Sage ist hier so ausführlich wiedergegeben, weil sie eine uralte, aber wichtige Erkenntnis festhält, ein regelrechtes, erstes Forschungsergebnis: Die Gewissheit des Zusammenhangs des Baches auf dem Breitscheider Feld mit der Quelle im Erdbacher Tal. Er ist keine Selbstverständlichkeit. Es gibt genug Beispiele dafür, dass Volksmeinung und Wissenschaft Jahrhundertelang die Zusammenhänge unterirdischer Gewässer völlig falsch eingeschätzt haben. Die Bodensenke, welche sich von den Bachschwinden bei Breitscheid zur Erdbacher Quelle hinzieht, ist ohne jede Aussagekraft für die jetzigen unterirdischen Abflussverhältnisse. Wer etwa das in der Alb verschwindende Donauwasser im weiteren Verlauf des Donautales suchen wollte, der würde es nie finden. Quer durchs Gebirge fließt es zur Achquelle im Talgebiet des Rheins.
In unserem Fall konnten nur genaue Beobachtungen den Zusammenhang des Erdbachs erkennen lassen, etwa parallele Schwankungen in der Wasserführung oder Farbänderungen. Mit dem Festhalten genauer Beobachtungen aber beginnt echte Forschung. In der Sage wurde eine gewonnene Erkenntnis festgehalten und weitergegeben. Sie nötigt uns Respekt ab vor den unbekannten Menschen der Vergangenheit. Ohne die Methoden und Hilfsmittel heutiger Wissenschaft haben sie ein Problem gelöst. Ihre Erkenntnis konnte mit modernsten Mitteln nur bestätigt werden.
Die ersten Untersuchungen der Erdbachhöhle.
Doch nicht nur die Phantasie, der Mensch selbst möchte ins Unbekannte eindringen, sich Klarheit verschaffen, was es verbirgt. Angst und Verlockung liegen immer nahe beieinander, wo es um unbekannte Räume geht. So dürfte schon mancher Unternehmungslustige versucht haben, in das unbekannte Bett des Erdbachs einzudringen.
Dass von solchen Versuchen fast nichts überliefert ist, darf wohl mit Fug und Recht als Zeichen totaler Erfolglosigkeit gewertet werden.
Immerhin, von einem Versuch wissen wir: Fritz Philippi, Pfarrer in Breitscheid von 1897 bis 1904, muss ihn unternommen haben. Jedenfalls schildert er in seiner autobiographischen Erzählung „Vom Pfarrer Matthias Hirsekorn und seinen Leuten“, dass Pfarrer Hirsekorn (Philippi) gemeinsam mit dem Lehrer das Kleingrubenloch (das Gebiet der Bachschwinden unterhalb Breitscheids) kaufen und unter Einsatz von Sprengstoff einen Zugang zur unterirdischen Welt zu schaffen versuchen. Das Unternehmen scheitert aber bald an Geldmangel und bürokratischen Hindernissen. Am Schluss steht die resignierende Erkenntnis: „Im Kleingrubenloch war nichts zu holen als nasse Hosen.“ Zu keinem anderen Ergebnis kam auch der erste wirklich höhlenkundige Wissenschaftler, der sich mit dem Erdbach beschäftigte: Dr. Hans Karl Becker aus Frankfurt. Er gründete anfangs der 20er Jahre unseres Jahrhunderts den ersten Frankfurter Höhlenverein und leitete ihn, bis er sich anfangs der 30er Jahre auflöste. Zahlreiche höhlenkundliche Forschungsfahrten in ganz Deutschland und darüber hinaus gaben ihm reiches Anschauungs- und Vergleichsmaterial an die Hand.
In seiner leider nie gedruckten Arbeit „Die deutschen Höhlen“ schreibt er: „Ferner befinden sich bei Breitscheid selbst absolut keine Höhlen am Tage. Es befanden sich dort auch nie welche. Bei Breitscheid treten lediglich zahlreiche Erdfälle auf, wie auch der Erdbach bei diesem Orte in einen oder mehreren Ponoren (Bodenöffnungen, in die Wasser hineinfließt) verschwindet, um bei Erdbach wieder zu Tage zu treten. Aus jener Gegend können wir daher von echten Höhlen nur die von Erdbach anführen.“ Es folgen Beschreibungen der Erdbacher Höhlen.
In seinem Aufsatz „Die beiden Erdbäche in Odenwald und Westerwald“ (Mitteilungen über Höhlen- und Karstforschung, 1925) beschreibt er die größte Öffnung im Schwandengebiet des Erbachs als ein „zugewachsenes und zugeschwemmtes Ponor, das wir schon als recht ansehnliche Spalte ansprechen dürfen.“
Dem ausgezeichneten Höhlenkenner Bekker wäre ein befahrbarer Zugang zum unterirdischen Erdbachlauf bestimmt nicht entgangen. Ich selbst habe in der Schwäbischen Alb eine erstmals von Becker erkundete Höhle kennen gelernt, die an der untersten Grenze dessen liegt, wo ein Mensch sich noch hindurcharbeiten kann. Beckers Schweigen über eine Erdbach Höhle beweist zur Genüge, dass es damals wirklich keinen Zugang gab.
Sprengpulver und Wünschelrute
Im Jahre 1928 muss ein solcher Zugang allerdings geschaffen worden sein. Zwar nicht aus wissenschaftlichem Erkenntnisdrang, sondern aus ganz praktischer Notwendigkeit: Die Schwinden des Erdbachs waren verstopft. Das ganze Kleingrubenloch mit Wiesen und Gärten drohte überschwemmt zu werden. Die Gemeinde Breitscheid half diesem Notstand ab, indem an der Südseite des Kleingrubenlochs ein Schacht von etwa 8 Meter Tiefe gesprengt und ausgemauert wurde. Dieser Schacht stieß auf natürliche Spalten,‘ genug, damit einige mutige Männer sie wenigstens ein Stück weit (die Angaben gehen bis etwa 30 Meter) verfolgen konnten. Genaue Aufzeichnungen wurden leider nicht gemacht, bzw. sind verschollen. Auch wurde leider kein Höhlenkundiger hinzugezogen. Immerhin wurde hier ein erstes Stück einer vom Erdbach durchflossenen Höhle begangen, ein Zweig allerdings, der mit der heute bekannten Erdbachhöhle keine Berührungspunkte hat.
Mit der Einleitung des Erdbachs in diesen künstlichen Schacht und die anschließenden Hohlräume war das Hochwasserproblem der Breitscheider für Jahre gelöst – aber auch eine Chance für die Forschung vertan. Vom Erdbach mitgeführter Schmutz hat den Schacht nach einigen Jahren übrigens wieder verstopft und andere Abflusswege gefunden. Versuche in den Jahren 1972/73, den Schacht wieder auszuräumen, blieben ohne Erfolg.
Nicht verschwiegen werden soll, dass auch sehr umstrittene Mittel eingesetzt wurden, den Geheimnissen des Erdbachs auf die Spur zu kommen. Im Jahre 1934 muss ein Major Söding mit der Wünschelrute den „genauesten Verlauf dieses Gewässers festgestellt“ haben (Dill-Zeitung vom 18. 5. 1934). In der Tat, seine Angaben sind sehr präzise: „Etwa 400 Meter nach seinem Eintritt in die Erde erweitert sich der Bach Teichartig zu einer Breite von 15 Meter auf einer Länge von 40 Meter und es ist deutlich zu erkennen, dass hier ein gewaltiger Hohlraum in der gleichen Ausdehnung durchflossen wird. Dann fließt der Bach wieder in seiner alten Breite von ca. 1 Meter in der bisherigen Richtung weiter. 200 Meter weiter östlich unterläuft er dann eine zweite große Höhle von 13×30 Metern. Auf der Erdoberfläche machen sich diese Hohlräume – wie stets die Ausstrahlungen aus unterirdischen Bodenspalten und Wasserläufen – dadurch deutlich erkennbar, dass darüber das ganze Wachstum der Saat überaus spärlich ist im Gegensatz zur weiteren Umgebung.“
Ohne Zweifel präzise Angaben – nur: entsprechen Sie auch der Wirklichkeit? Nun, was 400 Meter von der Einlaufstelle entfernt los ist, da können wir Höhlenforscher noch nicht mitreden. Und möglich ist nahezu alles. Von dem „deutlich erkennbaren“ spärlichen Wachstum haben wir freilich nichts feststellen können, trotz eingehender Beobachtung, sogar vom Flugzeug aus.
Radioaktivitäts-Messungen
Sehr viel seriöser klingt der Bericht von Prof. Ebert. 1936 hat er im Auftrag der Preußischen Geologischen Landesanstalt in unserem Gebiet Messungen der Radioaktivität des Untergrundes angestellt und aus erhöhten Messwerten auf besondere Klüftigkeit des Gesteins geschlossen. Er fand eine „Hauptspalte mit begleitenden, starken Zerklüftungszonen“ und meint: „Diese Zone stellt den Lauf des unterirdischen Höhlenbaches dar.“ Diese Zone verläuft nach einer von ihm beigefügten Zeichnung etwa parallel der Straße Breitscheid-Erdbach und schmiegt sich im Unterlauf eng an die Südseite der Gasseschlucht an.
Aus Eberts Bericht ist leider nichts über die verwendeten Geräte, ihre Messgenauigkeit usw. zu erfahren. Vor allem aber ist das Messgebiet aus heutiger Sicht viel zu klein gewählt. Es beginnt erst etwas unterhalb der Bachschwinde und beschränkt sich fast ausschließlich auf den Geländebereich, in dem ein oberirdischer Fluss verlaufen würde. Skeptisch stimmt auch der glatte, nur sanft geschwungene Verlauf der Bachzone. Soweit wir ihn bis heute kennen, nimmt der unterirdische Erdbach einen sehr bizarren Verlauf mit scharfen Knicken und Richtungswechseln bis 180 Grad. Selbst wenn Ebert einen großen Spaltenzug gefunden hat, der Verlauf des Erdbachs muss das keineswegs sein.
Arbeitsgemeinschaft Karst und Höhlen bekundet Interesse
Viel menschliches Bemühen hat, was diesen unterirdischen Lauf angeht, jahrzehntelang nicht über ein Vielleicht hinausgeführt. Sicher wäre es dabei auch noch lange geblieben, wenn nicht der Erdbach selbst nachgeholfen hätte.
Im Winter 1964/65 brach auf der an das Kleingrubenloch östlich anschließenden Wiese die Erde ein, nur wenige Meter neben der östlichsten Bachschwinde. Das Wasser hatte eine über ihm liegende Gesteinsschicht so weit aufgelöst, dass sie ihre Tragfähigkeit verlor und in einem eng begrenzten Bereich zusammenbrach. Das darüber lagernde Erdreich rutschte nach und nach in die Tiefe und wurde langsam vom Bach weggespült. Ein Loch zeigte sich an der Oberfläche und wurde immer größer. Bald wurden am Grund die Wassermassen des Erdbachs sichtbar. Glücklicherweise wurde dieser Schacht nicht zugeschüttet, wie manch anderer auf dem Breitscheider Feld, sondern nur mit Gitter, Zaun und Warnschildern abgesichert. Im Herbst 1965 fand sich im Raum Frankfurt eine Reihe von Höhlenfreunden zur „Arbeitsgemeinschaft Karst und Höhlen in Hessen“ zusammen. Da ich selbst dazu gehörte, kann ich im Folgenden aus eigenem Erleben berichten. Unser Ziel war es, ein Verzeichnis aller hessischen Höhlen zu erstellen. Vom Erdbach erfuhren wir im Oktober 1965 am Rande des Vogelsbergs durch den Lehrer Willi Demmer in Laubach. Anfang November standen wir dann erstmals an dem neuen Schacht. Wo soviel Wasser durchgeht, muss auch Platz genug für Menschen sein, war unser erster Gedanke. Es wurde beschlossen, im kommenden Sommer einen ernsthaften Versuch zu machen, dem Bachlauf folgend in die Unterwelt einzudringen. Als wir im Frühjahr 1966 zu ersten Erkundungen in Erdbach erschienen, floss der Bach intensiv grün gefärbt durch das Dorf. Im Interesse der Trinkwasserversorgung wollte das Hessische Landesamt für Bodenforschung den Zusammenhang der unterirdischen Wasserwege unseres Gebietes klären. Zu diesem Zweck war der Bach bei Breitscheid mit Uranin gefärbt worden, einem ungiftigen Farbstoff, der sich unter Anwendung chemisch-technischer Labormethoden noch in zehnmillionenfacher Verdünnung nachweisen lässt.
Diese Forschungen wurden den Sommer über fortgesetzt und brachten erstmals sichere Erkenntnisse über die unterirdischen Wasserverhältnisse. So kam heraus, dass der Erdbach für seinen Lauf durchschnittlich 14 Stunden benötigt. Geringe Reinigungskraft des unterirdischen Laufs lässt auf relativ großräumige Wasserwege schließen. Einige andere Rinnsale stoßen in der Tiefe zum Erdbach hinzu. Die Erdbacher Quelle bringt etwa die doppelte Menge des bei Breitscheid verschwindenden Wassers. Weitere Einzelheiten sind nachzulesen in dem Bericht von G. Mathess und W. Stengel-Rutkowski: „Färbversuche mit Uranin AP im oberdevonischen Riffkalkstein von Erdbach und Breitscheid“ in den Notizblättern des hessischen Landesamtes für Bodenforschung 1967, Seite 181-189.
Der unterirdische Weg des Erdbachs wird erforscht
Die ersten Erkundungen, die wir 1966 durchführten, brachten Aufschluss über die Möglichkeiten und Probleme eines persönlichen Eindringens in den unterirdischen Lauf des Erdbachs: Das Bachwasser lässt sich oberhalb des neuen Schachtes in andere Spalten leiten. Diese müssen allerdings vor jedem Einstieg neu aufgegraben und mit Gräben und Dämmen versehen werden. Dennoch mussten wir erfahren, dass das Wasser eine ständige Bedrohung bleibt. Plötzliche Niederschläge können den Erdbach derart anschwellen lassen, dass allen Vorsichtsmaßnahmen zum Trotz das Wasser sich in die Höhle ergießt. Ohne eine starke Sicherheitsgruppe an der Oberfläche und Telefon-Verbindung zu den Forschern unter Tage wäre ein Einstieg unverantwortlich. Der Eingangsbereich der Höhle bis in etwa 12 Meter Tiefe besteht aus großen, ineinander verkeilten Felsblöcken, die vom Einsturz hier klemmen blieben. Zwischen ihnen hindurch ließ sich immer wieder ein für Menschen passierbarer Durchschlupf öffnen. Weil ein solcher Versturz in sich nie ganz stabil ist und der Erdbach den einmal freigelegten Weg immer wieder verstopft, ist hier jedes Mal neue, nicht ganz ungefährliche Arbeit nötig. Unterhalb dieser Versturzzone müssen 36 Meter des senkrechten Schachtes freihängend mit Seil und Strickleiter bewältigt werden. Hier kann wegen der Steinschlaggefahr immer nur einer klettern und alles Material muss ab- und aufgeseilt wehren – eine zeit und kraftraubende Angelegenheit. Immerhin zeigte sich: der unterirdische Lauf des Erdbachs kann von Menschen auf weite Strecken verfolgt werden.
So wurden in den Jahren 1966-68 dreimal große Forschungsexpeditionen mit zahlreichen Teilnehmern in die Erdbachhöhle unternommen. Zug um Zug erschloss sich ein umfangreiches, bizarres Höhlensystem mit teilweise mehreren Stockwerken übereinander. Schließlich waren etwa 500 Meter Strecken begangen, etwa 400 Meter vermessen und dennoch kein wirkliches Ende erreicht worden.
Es zeigte sich, so weit wir kamen, dass die Gangstrecken aufs Ganze gesehen steil in die Tiefe führen. Der tiefste Punkt, den wir erreichten, liegt etwa 100 Meter unter dem Einstieg. Damit ist schon fast die ganze Höhendifferenz zur Erdbachquelle durchstiegen. Von der horizontalen Entfernung ist freilich so gut wie noch nichts bewältigt. Denn so weit wir vorstießen, verläuft die Höhle überwiegend in südlicher, statt in östlicher Richtung. Von Tropfsteinpracht war kaum etwas zu entdecken. Dafür fanden sich immer wieder wunderbare Zeugnisse für die Arbeit des unterirdischen Wassers. Das großartigste Beispiel konnten wir uns wegen des abgeleiteten Wassers nur in der Phantasie ausmalen: Den 36 Meter hohen (bei eventueller Ausräumung des Versturzes am Eingang gar 50 Meter hohen) Wasserfall, mit dem der Erdbach sich in die Canon-Strecke hinunterstürzen muss.
Die Höhlengänge lassen mit ihren im allgemeinen schmalen aber hohen Querschnitten ihre relativ junge Entstehung aus den Klüften des Kalksteins erkennen. Zahlreiche Seitengänge sind mit Lehm, Schottern und Sinter erfüllt – ohne Zweifel dankbare Ziele für weitere Forschungen.
Die immer neuen Steilstufen, Engstellen, Wasser- und Schlammbecken machen weiteres Vordringen jedoch rasch außerordentlich zeit- und materialaufwendig. Zwei Stunden reine Wegzeit waren schließlich für die nur etwa 300 Meter lange Strecke vom Eingang zum tiefsten Punkt der Höhle nötig.
Das sagt eigentlich alles über die Schwierigkeiten, die sich dort unten dem Vordringen in den Weg stellen. Dabei kommt es ja nicht nur aufs Vorwärtskommen an, sondern unter diesen schwierigen Umständen sollen Messungen ausgeführt, fotografiert, Proben gesammelt, Funde registriert, Material trans¬portiert und Kameraden gesichert werden.
Grundriss der Erdbachhöhle.
Allen Schwierigkeiten zum Trotz wurde hier die größte und tiefste Höhle Hessens erkundet. Das Eindringen in diese wilde, unterirdische Welt war jedes Mal etwas Faszinierendes. Hier taten sich Räume auf, die kein Mensch vorher gesehen hatte. Die beim ersten Erleben den neu entdeckten Räumen gegebenen Bezeichnungen spiegeln etwas von der Größe dieses Eindrucks wider: Canon, Dom, Schatzkammer. Sie lassen aber auch allerhand von den damit verbundenen Mühen ahnen: Klamm, letztes Loch, Wasserspalte, Sklavengang.
Geosonar und Höhlentaucher helfen nicht weiter
Der riesige Aufwand für eine Fortsetzung dieser Forschungen ließ uns dann nach anderen Möglichkeiten Ausschau halten. Ein gerade neu entwickeltes Gerät namens Geosonar bot sich an. Es sendet Schallwellen ins Gestein, empfängt die an Störungszonen und Grenzflächen reflektierten Wellen und wertet sie elektronisch aus. Seine Erfinder – Peter Henne und Bernd Krauthausen – hatten damit schon erfolgreich Höhlen von der Oberfläche des Gesteins aus geortet.
Grundriss der Erdbachhöhle
Bei den Erdbachschwinden in Breitscheid konnten sie mit ihrem Gerät nicht erfolgreich arbeiten. Die den Fels überlagernden Erdschichten waren zu mächtig. Interessante Ergebnisse wurden um die Austrittsstelle des Erdbachs im Erdbacher Steinbruch erzielt. Hier wurden beträchtliche Hohlräume geortet. Die bedeutendsten müssen sich jedoch erheblich unter dem Niveau des Quellaustritts befinden. Sie müssten also restlos unter Wasser liegen.
Dies gab den Anstoß dazu, Höhlentaucher in die Erdbachquelle zu entsenden. Das Durchtauchen völlig vom Wasser erfüllter Gangstrecken hat schon vielerorts zu ganz bedeutenden Entdeckungen geführt. Im Taucheranzug gegen die Kälte des Wassers geschützt und ausgerüstet mit Preßluftgeräten zum Atmen konnten schon Strecken von mehreren hundert Metern durchtaucht und anschließend trockene Höhlenräume erreicht werden.
Eine solche Forschungsweise ist freilich mit ganz besonderen Risiken behaftet. Nur besonders erfahrene, völlig gesunde und laufend geübte Forscher sollten sie sich zumuten. Es sind‘ sehr verschiedene Dinge, ob man im offenen Gewässer oder in den verwinkelten Gängen einer Höhle taucht. Aufgewirbelter Schlamm kann hier schnell jede Sicht und Orientierung nehmen. Scharfe Felskanten bedrohen die Atemschläuche. Zum Auftauchen muss man fast immer wieder zur Einstiegstelle zurück.
In der Erdbachquelle zeigt sich allerdings bereits nach wenigen Metern: Tauchen führt hier zu nichts. Durch die Sprengungen des ehemaligen Steinbruchs ist der Untergrund so zerrüttet, dass das Wasser des Erdbachs zwischen praktisch losen Gesteinsbrocken aus großer Tiefe nach oben strömt. Die Zwischenräume sind für Menschen viel zu klein. Es gibt kein Durchkommen.
Vom ehemaligen Luftschutzraum aus wird ein Zugang zur Erdbachhöhle gesucht
Mit größerem, wenn auch bisher noch ohne durchschlagenden Erfolg wurde dagegen in der Stollenhöhle des Erdbacher Steinbruchs gearbeitet. Im Zuge des Abbaus hatte hier einst ein künstlicher Stollen einen natürlichen Hohlraum angeschnitten. Im zweiten Weltkrieg hatte man diesen Raum bis zur Stollensohle aufgefüllt und als Luftschutzraum genutzt. Nach Stilllegung des Steinbruchs war der Stolleneingang zugeschüttet worden. Dank der Angaben alter Erdbacher und großer Unterstützung seitens der Gemeinde Erdbach konnte der Stolleneingang wieder gefunden und freigelegt werden. Daraufhin wurde im Höhlenraum in jahrelanger Arbeit das eingefüllte Material wieder ausgeräumt.
Es stellte sich heraus: Dieser Höhlenraum steht mit dem Erdbach in Verbindung. Eine wassererfüllte Kluft in seiner Tiefe schwankt in Bezug auf ihren Wasserstand parallel zur Schüttung der Erdbachquelle. Vor allem aber zeigten sich in den Lehmwänden, welche die Stirnseiten der Höhle abschließen, Schichten mit Bachschotter. Nach eingehenden Untersuchungen durch Dr. Homann vom Naturwissenschaftlichen Museum der Stadt Dortmund muss sie der Erdbach vor 50000 bis 70 000 Jahren dort abgelagert haben. Seitdem wird daran gearbeitet, in der bergseitigen Lehmwand einen Stollen voranzutreiben. Es besteht die Hoffnung, durch ihn früher oder später offene Gangstrecken zu erreichen. Auf diesem Wege könnte dann vielleicht doch noch von unten her in das System der Erdbachhöhle eingedrungen werden.
Was dabei letzten Endes heraus kommen wird, weiß bis heute noch niemand zu sagen. Ob der unterirdische Erdbachlauf überhaupt erhalten bleiben wird, ist ungewiss. Die Stadt Herborn ist daran interessiert, die Erdbachzubringer als Trinkwasserquellen zu nutzen. Die Kalkindustrie erweitert ihr Abbaugebiet im Raum Breitscheid. Die unterirdischen Hohlräume werden von der wachsenden Gemeinde Breitscheid als Klärgrube der Abwässer genutzt. All das lässt für die Zukunft wenig hoffen. Vielleicht heißt es in absehbarer Zeit von allem, was Erdbachhöhlenforschung im Lauf der Jahrzehnte zusammengetragen hat, nur noch: Es war einmal.
Höhlenforschung kann man gewiss auch anderswo treiben. Aber unsere Heimat wäre unwiederbringlich um eine einmalige und großartige Naturerscheinung ärmer.