Es war die Zeit, in der die Großfamilie noch nicht die Ausnahme war. Da wohnten die Urgroßeltern, die Großeltern, die Eltern und ihre Kinder noch unter einem Dach. Da saßen dann viele hungrige Mäuler an einem großen Tisch und stocherten in der großen schwarz angerußten Pfanne, die mitten vor ihnen stand. Heile Welt?
Ich erinnere mich noch gut, – als ich damals bei der Stadtverwaltung Dillenburg in der Lehre war. Ein Kollege erzählte, dass er seinen Vater ins Altenheim gebracht habe. Ich war damals sprachlos. Zunächst musste man mich aufklären, was überhaupt ein Altenheim ist. Das war mir unbekannt. Und dann hatte ich für diesen Mann längere Zeit nur Verachtung übrig. Bringt der seinen Vater in so ein Haus! Das war halt der Unterschied zwischen einer Kleinstadt und einem kleinen Dorf.
Ob Ludwig Rühle, Heimatdichter aus Nenderoth, dies Anfang des Jahrhunderts schon ahnte, als er in einem seiner Gedichte aus dem Band »Eich will dr mol n spass verzehl dichtete:
»De junge un de Ahle vertraa sich manchmol gor ze schleecht, uns komme nur de wingste menanner – wäi mr sät – zereecht. Dr ahl Grusshannes bot mol n wuhr Redd droff gedou: >Wann hau de junge Huck set hu, hirn morn de Ahle duhtgeschlou!<«
Arzt-Wunschliste im Gemeindehaus
Hart, aber in der heutigen Zeit ist das so: Da wollen die jungen Leute Urlaub machen,
aber wohin mit den Alten? Die Zahl der alten Menschen, die »abgeschoben« werden, ist nicht gerade gering. Nun, in dieser Zeit damals war die ärztliche Versorgung der Menschen auf dem Lande ganz anders als heute. In Erdbach, meinem langjährigen Heimatort, mussten die Angehörigen eines Patienten den Wunsch nach einem Doktor mit dem Griffel auf die schwarze Schultafel schreiben, die im Gemeindehaus hing. Da konnte man wählen zwischen Dr. med. Seibel oder Dr. med. Bender, beide aus Breitscheid. Die kamen dann ein- oder zweimal die Woche und sahen sich in ihrem »Doktorzimmer« im Gemeindehaus die gehfähigen Patienten an. Die Bettlägerigen wurden natürlich zu Hause besucht. Die Namen standen ja auf der Tafel.
Ich erinnere mich noch sehr gut, wie so ein Hausbesuch vonstatten ging: Da kam dann Dr. Seibel mit seinem Chauffeur Heinz Nickel durch die Küchentür gestürmt. Anmelden konnte man sich damals nicht, es gab keine Klingeln und Sprechanlagen. Man wusste nie, wer im nächsten Moment im Zimmer stand.
Erst mal einen Teller Gemüsesuppe
Dr. Seibel kam also in die Küche, sah, dass es eine gute Gemüsesuppe zum Essen gab, holte sich einen Teller aus dem Küchenschrank und bediente sich. Das hat keineswegs etwas mit Unverschämtheit zu tun. Es war eine Ehre für die Familie, wenn der Doktor sich so frei bewegte. Und nach der Stärkung vergaß es der Medizinmann nicht, sich nach dem Gesundheitszustand des Patienten zu erkunden. Damals wurden übrigens die Medikamente noch in Einzelabgabe verschrieben. Da hieß es dann 5 Tabletten von diesem und 3 Tabletten von jenem.
Gertrud Richter brachte die Arznei
Aber woher damals die Medikamente bekommen? Auch dafür gab es eine Patentlösung: Gertrud Richter war damals die rechte Hand vom Chef der Dill-Apotheke in Herborn.
Und alle Rezepte, die nicht gar so eilten, wurden ihr mitgegeben. Am nächsten Abend wartete dann am Bahnhof einige Medikamentenempfänger, um sich von Gertrud die bestellten Arzneien aushändigen zu lassen.
Nickel war Arzthelfer und Fahrer zugleich
Zum Chauffeur von Dr. Karl Seibel, dem Breitscheider Heinz Nickel, muss noch etwas angemerkt werden: Er war ein wandelndes »Patienten Daten-Lexikon«. Unglaublich, was dieser Mann, der wahrscheinlich damals wie heute der einzige Arzthelfer und Fahrer in Personalunion war, alles im Kopf hatte. Er wußte sämtliche Daten ‚aller von Dr. Seibel betreuter Familien. Damals brauchte der Arzt beileibe noch keinen Computer, und Datenschutz gab es auch nicht.
Ja, ja, es war schon eine besondere Zeit, die Zeit damals in einem kleinen Dorf.
Quelle: Zeitungsgruppe Lahn Dill, Autor: Gerd Werner, Erdbach